"Sie sind zu überqualifiziert". Haben Sie diese extrem frustrierende Begründung schon einmal bei einer Jobabsage gehört und sich dabei so richtig gewundert? Obwohl Unternehmen nach der bestmöglichen Besetzung für eine Stelle suchen, hat es den Anschein, dass es zu gut dann aber auch wieder nicht sein darf.
Aus meiner Berufspraxis weiss ich, dass es viele Gründe gibt, warum sich Menschen auf Stellen bewerben, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Es gibt diejenigen, die eher aus einer Not heraus und gezwungener Massen die Karriereleiter nach unten steigen müssen. Wenn z.B. der Arbeitsplatz verloren ging oder ein Burn-Out ein Leben im High-Speed-Modus nicht mehr zulässt. Aber auch immer mehr Führungskräfte kommen in mein Karriere-Coaching, die zwar viel in ihrem Berufsleben erreicht und materiell sehr gut dastehen, sich aber trotzdem nach einem stressfreieren Job sehnen, weil sich ihre Prioritäten im Leben verschoben haben. Downshifting nennt sich dieses Phänomen im Fachjargon, wenn Menschen, aus welchen Gründen auch immer, bewusst nach einem beruflichen „Weg zurück“ suchen, um ihr Leistungspensum und ihre Arbeitsbelastung zu reduzieren.
Peter ist einer von ihnen. Nach Abschluss des Studiums vor 25 Jahren hat sich seine Karriere erfreulich glatt und gradlinig entwickelt, berichtet er mir im Coaching. Er führe mit seinen 55 Jahren als Bereichsleiter einer grossen Firma fast 500 Mitarbeiter. Der Leistungsanspruch und der Arbeitsaufwand in seinem Job seien natürlich hoch, aber die Arbeit mache ihm grundsätzlich noch Spass. Trotzdem verspüre er nach jahrelangem unermüdlichem Klettern auf der Karriereleiter den starken Wunsch in sich, die Geschwindigkeit und den Zeitbedarf seines beruflichen Einsatzes langsam aber sicher zu drosseln, um mehr Zeit mit Dingen zu verbringen, die ihm am Herzen liegen. Ein nicht ganz leichtes Ansinnen, wie er sichtlich ernüchtert nach seinen ersten Jobabsagen feststellt.
Aber ist es wirklich ein Handicap auf dem Arbeitsmarkt, wenn die Fähigkeiten und das Wissen eines Bewerbers die Erwartungen und Ansprüche eines Arbeitgebers übertreffen? Ich denke ja, obwohl der Stempel „überqualifiziert“ nicht wirklich etwas mit den hervorragenden Fähigkeiten eines Bewerbenden zu tun hat. Vielmehr ist er auf einige echte und/oder vermutete Probleme, auf psychologische Barrieren oder tiefsitzende Ängste bei einigen Personalentscheidern zurückzuführen. Um diese besser nachvollziehen zu können, ist ein Perspektivwechsel vonnöten.
Nehmen wir an, Sie wären eine Bereichsleitung. Was wäre Ihr erster Impuls, der Ihnen auf der Suche nach einer neuen Abteilungs- oder Teamleitung bei Peters Bewerbung in den Sinn käme? Würden Sie denken, dass heute Ihr Glückstag wäre, weil dieser Bewerber, der ebenso viel oder sogar mehr wie Sie im Job erreicht hat, nun unter Ihrer Führung zum Abteilungs- oder Teamleiter schrumpfen will? Oder klingt Peters Bewerbung für Sie eher wie die Bewerbung einer Person, die nichts mehr beweisen will, die es niemanden mehr zeigen muss und die wegen der fehlenden beruflichen (Aufstiegs-) Ambitionen wahrscheinlich nur noch sehr bedingt um Ihre gute Beurteilung kämpft? Nach jemandem, der faul sein und sich in einem niedrigeren Job nur ausruhen möchte. Bei so einer Deutung würde auch Geld als Motivationsfaktor Peters Leistungswillen nicht mehr anspornen können.
Vielleicht sind Sie ja auch weniger qualifiziert oder jünger als Peter. Wäre es in diesem Fall möglich, dass Sie sogar Angst vor ihm hätten? Weil sein Lebenslauf so einschüchternd auf Sie wirkt und Sie die Befürchtung hegen, dass mit ihm als Untergebenen nervenaufreibende Autoritätsprobleme auf Sie zukommen. Denn vielleicht mangelt es dem „Alten“ ja an Respekt und er stellt Ihre Kompetenz vor dem Team in Frage. Vielleicht sägt er sogar an Ihrem Stuhl oder pfuscht Ihnen ins Handwerk, wo immer er kann. Ein Horrorszenario für jeden Entscheider.
Aber vielleicht klingt Ihrer Ansicht nach Peters Lebenslauf eher gefährlich nach Versagen und Scheitern, nach jemanden, der nicht mehr belastbar ist?
Denkbar wäre es auch, dass Sie zwar Peters Potential zu schätzen wissen aber vermuten, seine Lohnvorstellungen könnten zu hoch für Ihre Firma sein. Schliesslich hat er in seiner alten Position gut verdient.
Vielleicht befürchten Sie auch, er könnte unterfordert in dem Job sein und sich deshalb schnell langweilen. Oder nur aus der Not heraus einen Übergangsjob suchen, den er aber, sobald ein besseres Angebot vorliegt, schnell kündigt. Dann müsste der Job erneut ausgeschrieben und ein Nachfolger eingearbeitet werden, was dem Unternehmen viel Zeit und vor allem Geld kostet.
So oder ähnlich werden viele Überqualifizierte heute leider noch zu unrecht abgestempelt. Das liegt daran, dass der Wunsch, die Karriereleiter nach unten zu klettern, nicht wirklich in unsere gängigen Karrieremuster passt. Und wo etwas nicht ins Muster passt, ist der wilden Spekulation und dem Schubladendenken Tür und Tor geöffnet. Dabei ist Downshifting überhaupt nicht mit Faulenzen gleichzusetzen und bedeutet auch nicht zwangsläufig, weniger arbeiten zu wollen. Vielmehr geht es dabei um die bewusste Entscheidung, mit dem nächsten Karriereschritt zu mehr Selbstbestimmung und damit zu mehr Kontrolle über die eigene Zeit, stärkerer Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit und zu grösserer Freiheit im Beruf und im Leben zu gelangen. Auch das aus dem Lateinischen stammende Wort Karriere bedeutet wörtlich übersetzt nichts anderes als Laufbahn oder Fahrweg und hat mit nach oben Steigen erst mal gar nichts zu tun. Doch eine berufliche Laufbahn, die z.B. ab eines bestimmten Alters so schön allmählich runtergeht, wie sie einstmals raufgegangen ist, ist im Gegensatz zu skandinavischen oder anglo-amerikanischen Ländern in unserer Arbeitswelt und Gesellschaft (noch) nicht vorgesehen und in den wenigsten Unternehmen denkbar. Und wen das Thema Karriere interessiert, der findet hierzu zwar meterweise Literatur in Buchhandlungen und Tausende von freundlichen Coaches, die ihm oder ihr dabei unter die Arme greifen wollen, doch dabei geht die Richtung fast immer nur von unten nach oben. Ein Weg zurück, den scheint es nicht zu geben. Im Hinblick auf die hierarchische Entwicklung eines Mitarbeiters und vor allem eines Managers kennt das System oft nur das „up or out“-Prinzip: Der Mitarbeiter bleibt, was er ist oder er verliert alles. Deshalb ist nichts für einen Bewerber schwieriger zu verkaufen als der Wunsch, einen Schritt zurückzugehen. Dabei verlieren Unternehmen mit diesem "up or out"-Denken nicht nur hoch qualifizierte Mitarbeiter sondern auch Know-how. Gerade im Hinblick auf das immer mehr zur Herausforderung werdende Thema Mitarbeiterbindung wäre hier ein Trend zum Halten statt Auswechseln eine sinnvollere Strategie.
Wenn die Voraussetzungen so sind, ist dann ein berufliches Zurückrudern überhaupt machbar? Grundsätzlich ja, auch wenn der Weg zurück nicht einfach sein wird. Er wird nur dann gelingen, wenn Sie ihn sorgfältig vorbereiten und bei der Umsetzung einige wichtige Punkte beachten:
- Zunächst sollten Sie Ihr Ziel klären. Machen Sie sich klar, wohin Ihre Reise gehen soll. Denn nur wenn Sie innerliche Klarheit besitzen, können Sie auch nach aussen überzeugend wirken. Denn ob ein Rückschritt ein Rückschritt oder ein Fortschritt ist, ist letztlich eine Frage der Perspektive. Seien Sie darauf gefasst, dass Ihre Entscheidung von anderen angezweifelt und spätestens im Bewerbungsgespräch in Frage gestellt wird. Was für Sie selbst ein Schritt in die richtige Richtung ist, bleibt für Entscheider ein Rückschritt und wird daher häufig sehr kritisch bewertet. Um Skeptiker zu überzeugen, müssen Sie vor allem authentisch und gut vorbereitet sein. Welche Argumente können Sie für den angestrebten Job ins Feld führen? Was bringen Sie dafür mit und warum würde der Job Ihnen Spass machen? Wenn sich Ihr berufliches Ziel auf Grund neuer Lebensumstände verändert hat, so sollten Sie dies in kurzen, knappen Worten einem Gesprächspartner nachvollziehbar erklären können. Sollte Ihre letzte Position Ihren Erwartungen nicht entsprochen haben, dann sollten Sie Ihre Enttäuschung darüber offen zugeben können. Denn jeder Versuch einer Beschönigung würde im Vorstellungsgespräch nur Misstrauen erwecken und Nachfragen provozieren.
- Auch können Sie sich das Downshifting wesentlich einfacher machen, wenn Sie Ihre Bewerbungsunterlagen und Ihre Social Media Profile auf den angepeilten Job hin anpassen. Fangen Sie bei Ihrem Lebenslauf an, damit der Leser Ihrer Bewerbung sofort erkennt, dass Sie zu Ihrem Wunschjob passen. Selbstverständlich sollten Sie dabei nicht lügen, doch es gibt immer mehrere Möglichkeiten, eine Tätigkeit zu beschreiben. Und Sie müssen ja auch nicht alles erwähnen, wie beispielsweise die Grösse Ihres Verantwortungsbereichs und die Anzahl Ihrer Mitarbeiter. Konzentrieren Sie sich bei der Darstellung Ihrer Aufgaben lieber auf diejenigen, die Sie auch im neuen Job ausführen wollen. Machen Sie sich "kleiner" im Lebenslauf als Sie tatsächlich sind. Hier kann auch die Wahl von bescheiden klingenden Funktionsbezeichnungen, statt z.B. „Kredit- und Leasing-Spezialist“ lieber „Kaufmännischer Sachbearbeiter“, viel bewirken.
- Manchmal, wenn der Rückschritt absolut nicht zu verbergen ist, kann es auch Sinn machen, im Anschreiben kurz herauszustellen, was Sie zu Ihrer Entscheidung bewogen hat und welche Ziele Sie mit Ihrer Bewerbung verfolgen.
Möchten Sie wissen, wie Peters Geschichte endete? Nachdem er sein berufliches Ziel festgelegt und seine Bewerbungsunterlagen daraufhin optimal aufbereitet hatte, wurde er auch endlich zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, dabei allerdings auf Herz und Nieren geprüft. Leider gelang es ihm nicht, die Zweifel der Entscheider ganz auszuräumen. Erst nach einer längeren Durststrecke, die er heute augenzwinkernd Trainingsphase nennt, hatte er Erfolg. Doch im Rückblick ist er ungemein froh darüber, dass er die vielen Hürden auf sich genommen hat und sich von seinem Ziel, die Karriereleiter herunterzuklettern, nicht abbringen liess. Er selbst spricht von einem Befreiungsschlag, einem Ausbruch aus dem Hamsterrad, den er gemacht habe. Jetzt führt er einen schönen Expertentitel, muss zwar noch immer beruflich viel leisten, was ihm allerdings Spass macht. Und er reist auch nicht mehr so viel in der Weltgeschichte herum. Abends ist er meist bei seiner Familie. Was er am meisten geniesst, ist das Wochenende. Denn da hat er den Kopf endlich frei für die schönen und wichtigen Dinge im Leben.
Ihre
Ewa Vasseur von PeopleProjects
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